In den USA werden im Unterschied zu Deutschland schon immer Integritätstests eingesetzt. Hier gibt es auch viel mehr Studien dazu, wie vorhersagestark diese sind. In einer großen Studie von 1998 (Ones, Deniz, Viswesvaran, Chockalingam) wurden 724 806 Bewerbende getestet. Frauen zeigten hier eine höhere Integrität als Männer, nur geringe Effekte gab es bezogen auf das Alter. Dabei konnte „abweichendes“ Verhalten im Job gut vorhergesagt werden.
Die Wirksamkeit der Integritätsfragebögen ist aus deutscher Sicht schwer nachvollziehbar. Die Items in den Fragebögen sind aus unserer Perspektive einfach durchschaubar (z. B. „Ich habe von meinem Job schon mal was geklaut.“). In den USA sind die Bewerbergruppen jedoch bodenständiger, so dass aus statistischen Gründen hohe Korrelationen zustande kommen. Da die Grundeinstellung des US-amerikanischen Mitarbeitenden zu seinem Arbeitgeber auch positiver ist als die des durchschnittlichen Deutschen, fallen dort die Unzufriedenen eher auf.
Abb. 1 OBI-Fragebogen- Zusammenhänge zwischen Integrität von Mitarbeitenden und Leistung / Potenzial
Ist Integrität aus psychologischer Sicht eine Persönlichkeitseigenschaft?
Ein klares „Jain“. Die Diskussionen z. B. bei Siemens oder VW zeigen, dass das, was gestern als ganz normales Verhalten im Geschäftsleben angesehen wurde, heute nicht mehr passt. Persönlichkeit ist jedoch definiert als eine Kombination von über die Lebenszeit relativ stabilen Merkmalen. Insofern ist Integrität beeinflusst von Persönlichkeit, unterliegt jedoch auch der gesellschaftlichen Beurteilung.
Außerhalb von Fragebögen ist die Einschätzung der Integrität von Bewerbenden ein schwieriges Vorhaben. Zeugnisse, Referenzen etc. sind wenig aussagekräftig. Unternehmen werden Vorfälle strafrechtlich lieber nicht verfolgen, um keine arbeitsrechtlichen Probleme zu bekommen. Die Suche in sozialen Medien ist durch die neue Datenschutzverordnung letztlich verboten.
Auf der Ebene der Persönlichkeitsfragebogen gibt es zwei methodische Ansätze (vgl. Sackett, Burris, Callahan, 1989): Einmal persönlichkeitsorientierte Verfahren, zum anderen offenkundige Verfahren (engl. overt integrity tests). Bei persönlichkeitsorientierten Verfahren gibt es keinen dominierenden Faktor, der auf abweichendes Verhalten hinweist. Vielmehr werden Tendenzen untersucht: Geringe Impulskontrolle, Sensation Seeking, mangelnde Sensitivität für die Gefühle anderer, geringe Konformität, mangelndes Selbstwertgefühl, Verantwortungslosigkeit.
Nicht-Rationalisierung als Indikator für Integrität
Die offenkundigen Verfahren fragen direkt nach Einstellungen und Werthaltungen, die für hohe / geringe Integrität stehen: geschätztes Aufkommen unehrlichen Verhaltens, Akzeptanz von Rechtfertigungs- und Entschuldungsargumenten (Rationalisierungen, Neutralisierungen), Beschäftigung mit eigenem Fehlverhalten in der Fantasie.
Interessant ist die Skala der „Nicht-Rationalisierung“, die wir auch in unseren neuen OBI Fragebogen zur Integritätsmessung vorgesehen haben.
Dabei geht es um die Bereitschaft, unerwünschtes Verhalten dadurch zu rechtfertigen oder zu rationalisieren. Beispiel: „Dass sich ein Mitarbeitender unterbezahlt fühlt, ist noch lange kein Grund, den Verdienst durch unkorrekte Dinge aufzubessern“ oder in der anderen Richtung: „Alle machen Schwarzarbeit, dann kann ich da auch machen“.
Obermann Studie zur Integritätsmessung
Im Rahmen der Studien von Obermann Consulting wurde unser neue Fragebogen OBI zur Integritätsmessung N = 200 Mitarbeitenden in verschiedenen Organisationen vorgelegt. Gleichzeitig wurden die jeweiligen Vorgesetzten befragt. Der / die direkte Vorgesetzte sollte dabei folgende Fragen beantworten: „Der/die Mitarbeiter/in hat schon mal Dinge getan, die mehr im Eigeninteresse als im Unternehmensinteresse standen“ und „Der/die Mitarbeiter/in hat schon mal Dinge getan, die nicht im Interesse der Kolleg/innen waren.“
Man könnte annehmen, dass Mitarbeitenden die Fragen eher sozial erwünscht beantworten oder Vorgesetzte doch nicht zugeben, wenn sich Mitarbeitende nicht korrekt verhalten. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Die Studie zeigt, dass alle vier Skalen der Integrität sehr gut die Beurteilung der Integrität durch den jeweils direkten Vorgesetzten vorhersagen können.
Hohe Integrität nicht immer gleich Führungspotenzial
Die Zahlen zeigen, dass sich die Integrität von Bewerbenden über ein kurzes 32-Fragen-Instrument sehr gut einschätzen lässt. Ein Wermutstropfen besteht jedoch: Die Sub-Skalen zu Bescheidenheit und Aufrichtigkeit stehen in negativem Zusammenhang zu dem durch die Vorgesetzten eingeschätzten Führungspotenzial. Das bedeutet leider, je bescheidener die Person, desto loyaler und integrer wird das Verhalten on-the-job eingeschätzt, gleichzeitig ist das Führungspotenzial jedoch geringer. Unter vielen erfolgreichen Mitarbeitenden und Chef*innen finden sich eben auch einige, die in ihrer Integrität nicht ganz top abschneiden.